Wacław Oszajca

Antoni Rząsas Holzanthropologie
Betrachtungen am Beispiel einiger Skulpturen

Betrachtungen am Beispiel einiger Skulpturen

Am Anfang ist der Baum. Aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Er wächst gleichzeitig empor und hinein, fest verwurzelt in der Luft und im Feuer, in der Erde und im Wasser. Für uns, deren Sein später begann, wachsen die Bäume zur Sonne, aber für die Vögel und die Engel ist es umgekehrt, da wachsen die Bäume zur Erde. Derjenige, der sie geschnitzt hat, versah seine Werke nicht mit seiner Signatur, denn wo hätte er auch sein Zeichen anbringen sollen? An den Wurzeln, am Stamm, an den Ästen oder vielleicht an den Blättern? Ein Baum ist wie Musik. Zwar besteht er länger, als ein Ton, aber es ist unbedeutend, wie lange etwas währt, denn wenn es ist, dann ist es immer. Es ist in allen Zeiten und Weisen seiner Wesenheit, seines Seins. Und so ist auch der Baum im Holz.

Wir sind auf Erden spätere Ankömmlinge, kamen nach den Bäumen und in ihnen, in ihrem Schicksal, ihrer Bestimmung sahen wir, erkannten wir, offenbarte sich uns – unser Schicksal. Schließlich sind wir wie sie aus Erde und Wasser, Luft und Feuer. Sobald von unseren Augen Speichel und Schlamm abfallen und wir unser Augenlicht wiederfinden, sind das Erste, was wir zu sehen beginnen, gleichsam wandelnde Bäume, also Menschen. Dieses Wunder des Wiedererlangens der Sehkraft bewirkt, dass die einander so feindlichen Elemente – Geburt und Tod – sich zu demselben: zum Wesen vereinen. So wie in der Skulptur, eigentlich in allen Skulpturen von Antoni Rząsa, aber insbesondere in jener, die man „Bestimmung“ nennen könnte. Die Skulptur besteht aus drei Teilen: dem Kreuz, Jesus mit Dornenkrone und offenem Herzen sowie einem Säugling in der Wiege. Außerdem ist noch eine Kette zu sehen, die das Herz Jesu umschlingt und zur Wiege, zum Säugling führt. Aber vielleicht ist es umgekehrt, vielleicht hat der Mensch diese Kette um das Herz Gottes geworfen? Und vielleicht ist es so, wie in der Bibel beim Propheten Jeremias: „Du hast mich betört, o HERR, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt“ (Jer 20, 7). Gott betört den Menschen, aber der Mensch betört auch Gott, denn dies ist eine Herzenssache. Das Geheimnis des Glücks.

Rząsa gab seinen Skulpturen keine Namen. Wozu sollte er es auch tun? Jede Bezeichnung, jeder Name lügt, indem er die Unendlichkeit in sich einzuschließen versucht. Unsere Sprache, wie auch alles andere, ist ja erst im Krabbelalter. Unsicher, wie ein Kind streckt sie die Beine und beugt gleichzeitig die Arme, so dass sie statt des Kopfes den Hintern zum Himmel und zur Sonne hebt. Dies bedenkend, könnte man eine der frühesten Figuren des Meisters Antoni als „Der Allererste“ bezeichnen. Weder ein Schimpanse, noch ein Gorilla oder Pavian, hat er dennoch von jedem etwas. Ebensolches geschieht in den Skulpturen, die Menschen darstellen: asiatische Schlitzaugen, afrikanische Lippen und Haare, nordisches Gesichtsoval. „Der Allererste“ sitzt wie ein Schimpanse da, die Hände um die Fußknöchel geschlungen. Die rechte Hand ist noch die eines Affen, die linke aber schon menschlich, denn nur der Mensch kann, der Affe noch nicht, nur der Mensch kann die Hand so eng falten, präzis, zu einer Faust ballen.

Das Gesicht des „Allerersten“ ist äffisch-menschlich. Es ist in der Tat aus Holz, aber irgendwie auch so, als wäre es aus Feuerstein gemeißelt, aus Stein gehauen. Vor allem aber dämonisch und göttlich zugleich. Den Kopf krönen zwei Kronen: eine königliche oder vielleicht die eines Narren sowie ein Heiligenschein aus Dornen. Tier, Mensch, Gott. Gestaltlos wohlgestalt. Aus Holz hervorgegangen, aber nicht entfremdet. Er ist eher herausgewachsen, aus dem Holzblock hervorgequollen, daraus geschaffen, aber nicht geschnitzt.

Ähnlich verhält es sich mit der Figur „Die Gleichzeitigkeit“. Der Holzblock, aus dem sie entstand, diente Antoni Rząsa zuvor als Schraubstock. Bei der „Gleichzeitigkeit“ hatte der Meister nicht allzu viel Arbeit. Eben nur so viel wie eine Hebamme bei einer einfachen Geburt. Mit dem Unterschied jedoch, dass er gleichzeitig Geburtshelfer und Gebärende sein musste. Er gebar und nahm die Geburt entgegen. So wie in der Skulptur „Freude des Morgens“. Eine blutjunge Mutter, die gerade erst ihre noch kleinen Flügel entfaltet, spielt mit ihrem Kind. Ein leichter Windstoß hebt ihre Schürze. Das Lachen, Zwitschern und Lallen des Kindes klingt für Mutters Ohren wie Vogelgesang. Und so ließ sich wirklich auf einem Ohr der Mutter ein Vogel nieder. Der Zahn der Zeit hat ihm schon ein Stückchen vom Flügel abgenagt, aber er hat damit bestätigt, dass nicht nur der Mensch die Welt gestaltet.

Kehren wir nun zur Figur „Die G1eichzeitigkeit“ zurück. Nach den Worten Czesław Miłosz‘ ist diese Skulptur ein Beweis dafür, dass unsere Gattung den Mut hat, nach dem Unmöglichen zu greifen. In Rippenhöhe an der linken Körperseite bricht der Holzblock auf, biegt sich auseinander, öffnet sich wie eine Grotte, wie ein Mund, gleichsam ein Schoß. Doch nicht aus seinem Inneren, aus dem von Wänden eingefriedeten Raum, erhebt sich der Strahlende Kopf eines Mannes, sondern aus dem Brustkorb, aus dem Brustbein, das die Rippen verbindet, also aus dem Herzen, dem tiefsten Innersten des Menschen. Gleichzeitig ruft diese offene Seite, dieser lebendige Körper eine Grotte in Erinnerung, den Schoß der Erde, der Menschen gebiert, so wie sie den Sohn Gottes geboren hat. Über dem strahlenden, gekrönten, leidenden Gesicht haben wir ein Zweites Gesicht. Dasjenige eines Mannes? Oder eher das einer Frau? Es ist schwierig, darauf eindeutig zu antworten. Auf jeden Fall das eines Menschen. Eines Menschen, der einen Menschen gebiert. Der Lebende stirbt in der lebenspendenden Ekstase, der Sterbende hingegen erwacht in der todspendenden Ekstase zum Leben. Damit erklärt die Skulptur die Sprache für ungültig, auf jeden Fall, sie problematisiert sie. Wir sagen Leben, wir sagen Tod, aber wir sehen die G1eichzeitigkeit im Ablauf des Geschehens sowohl des einen als auch des anderen. Wir sehen unklar wie in einem Spiegel, wie im Nebel. Aber ist es denn wirklich so wenig, wenn unsere Augen über den Horizont des Wortes und zugleich über den Horizont der Sichtbarkeit hinausreichen? Die Skulptur spricht ja doch, sie erzählt, aber sie wartet auch aufs Wort, das sie zum Leben erweckt, weil es sie verbalisiert.

Pietà der leeren Hände“. Eine Frau hält den zur Erde sinkenden Körper eines Mannes, oder vielleicht – man weiß es nicht genau – hebt sie ihn vom Boden auf und empor. Sie entreißt ihn der Erde, stellt ihn auf die Beine, hebt ihn in die Höhe, dorthin, wo die steifen Arme des Toten, des Sterbenden, des Zum-Leben-Erwachenden mit geöffneten Händen das blaue Firmament durchstoßen, in den Himmel dringen. Vergebens. Deren Totenstarre, die erstarrten Finger greifen ins Leere. Der Himmel ist leer. Es gibt keinen Himmel. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Es gibt aber dafür die Luft, die Wolken, die Sterne, also andere Sonnen anderer Welten. Anderer? Das Leben ist doch hier. Da, wo sich der Körper des Mannes mit dem der Frau, der Mutter mit dem des Kindes, der Mutter mit dem des Sohnes verschlingt. Ein Körper, der gleichzeitig göttlich und menschlich ist. In der „Pietà der leeren Hände“ erwacht der Körper des Mannes in den Armen der Frau zum Leben. Sie ist es, die dem Manne das Leben schenkt,

ihn zum Leben wiedererweckt. Also Pietà, und nicht Schmerz, tiefe Trauer, Beweinung, Verzweiflung, Resignation und stoische Ruhe oder großherzige Opferbereitschaft. Nein. Das Leben immerfort, Bestehenim Vergehen.

Unter den Skulpturen von Antoni Rząsa gibt es eine, die keinen Namen braucht, weil sie ihn von Natur aus hat. Der „Franziskus von Assisi“. Sein Gesicht ist getreu dem Fresko von Assisi entnommen. Ein Taubenkranz. Ein flatternder, tanzender, gurrender Heiligenschein um seinen Kopf, der auch auf die „Blümlein des heiligen Franziskus“ zurückgeht. Eins davon entfaltet sich wie ein Stern auf dem rechten Zeigefinger des Heiligen. Auf dem linken Zeigefinger ein Kreuzlein. Es ist aber auch eine Schlange da. Franziskus tritt mit seinem linken Fuß auf ihren Schwanz. Auf den Schwanz, nicht auf den Kopf. Es kann nicht anders sein. Schließlich teilen sowohl er als auch die Schlange dasselbe Los des Heranwachsens zur Fülle des Lebens, also zum Glück, zur Vergöttlichung. Franziskus will, beabsichtigt, niemanden und nichts zu schlagen, zu besiegen, also auf beide Schultern zu zwingen, in den Boden zu treten, zu Staub zu zerreiben, zu vernichten, er will retten. Mit dem linken Fuß hält er daher den Schwanz der Schlange fest, diese richtet sich indessen, entgegen ihrer Natur, die ihr eine senkrechte Haltung nicht gestattet, auf, so wie es dem geziemt, der viel zu sagen hat über Glück und Unglück sowohl der Menschen als auch der Engel, als auch Gottes, aber auch über Glück und Unglück der Elemente dieser Welt, der Bäume und der Tiere.

Es gab eine Zeit, in der Menschen andere Menschen am Baum aufhängten, am Pahl, arn Kreuz. Man hängte den Menschen an etwas auf. Seit kurzem begann man ihn am Nichts aufzuhängen. An den Händen, in der Luft. Die Gruppe „Die Drei“, ein Triptychon, stellt drei Männer in Gefängnis-, KZ-Lager-, Zebrakleidung dar. Zwei sind langhaarig, einer hat einen glattgeschorenen Kopf. Einer von den dreien ist mit doppelten Händen ausgestattet. Ein Paar bilden die Hände des Verurteilten. Das zweite Paar, mit den Fingern zur Erde gerichtet, ist an den Handgelenken des Sterbenden angebracht. Es scheint, als würde Jemand von oben herab seine Hände auf die Handgelenke des in der Luft an einer Kette Hängenden gelegt haben. Es ist ungewiss, ob dies der Augenblick ist, in dem dieser Jemand von oben gerade erst erschienen ist und den in den Tod Fallenden auffängt, oder ob dies vielleicht der letzte Augenblick ist, in dem der Sterbende den Händen des ihm zu Hilfe Eilenden entgleitet. Vielleicht schließen sich die Hände und erlösen den Verurteilten vom Tod? Doch nein, das Wunder ereignet sich nicht. Es geschieht immer noch nicht. Das Gesicht des Verurteilten bestätigt diese Annahme. Vielleicht ist es daher so, dass der Sterbende und der vom Tod Rettende in sich sind, eine untrennbare Einheit bilden. Sie sind in einem Bund, wie Gott mit dem Menschen. Hat es deshalb keinen weiteren Sinn zu fragen, welcher der Verurteilten Jesus, und welcher der Verbrecher ist? Er ist jeder und jeder ist er. Wenn schon, dann ist wohl derjenige mit dem geschorenen Kopf die vollkommenste Darstellung Jesu, weil er am wenigsten zu unseren Vorstellungen von Gott passt.

Möglicherweise hat man eben deshalb am Grab von Antoni Rząsa ein in Luft gemeißeltes Kreuz angebracht – nicht in Holz, Stein, Eisen, sondern in Luft. Derjenige, der daran arbeitend, das Unsichtbare sichtbar machte, wusste und weiß es, dass die Skulptur, wie jedes andere Kunstwerk, lebendig ist und unseren Traum erzählt, von jenem erzählt, was am schönsten ist, weil es unmöglich zu erreichen ist – vom Glück. Deshalb ist es gar nicht verwunderlich, dass Meister Antoni nicht fürchtete, das Herz eizusetzen – ein, wie es vielleicht scheint, so abgedroschenes Symbol. Und genauso fürchtete er nicht, in eben diesem Herzen, wie in einem Heiligenhäuschenoder einer gotischen Kathedrale, eine purpurfarbene Spinne anzubringen. Nicht minder ein Symbol.

2017 © Galeria Antoniego Rząsy