Wawrzyniec Brzozowski

Antoni Rząsa (1919-1980)

Zuerst Absolvent, später Lehrer am Staatlichen Gymnasium für Techniken der Bildenden Kunstin Zakopane; Skulpturen in Holz mit überwiegend religiöser Thematik; Ausstellungen…; Sammlungen…; Frau… Sohn… – so ungefähr könnte eine kurze biographische Notiz über einen der interessantesten polnischen Bildhauer des 20. Jahrhunderts aussehen. Alles ist scheinbar richtig, es bleibt nicht viel zu ergänzen und dennoch verbirgt sich hinter diesem anscheinend typischen Lebenslauf des Lehrers einer provinzialen Kunstschule, der nur selten seine heimatlichen Gefilde verließ, ein ganz und gar ungewöhnliches Leben.

Das Licht der Welt erblickte er kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges in einer armen Bauernfamilie in Futoma, einem kleinen Dorf südlich von Rzeszów (Südostpolen), an der Grenze zweier Kulturen, wo sich seit Jahrhunderten Rom und Byzanz vermischten und die strengen Ikonenheiligen mit den pausbäckigen Heiligenfiguren der katholischen Andachtshäuschen friedlich koexistierten – dieses frühe Bewusstsein, dass esverschiedene Religionen gibt und keine sich ein Recht auf vertretbare Ausschließlichkeit anmaßen kann, ist wichtig. DieWelt veränderte sich hier langsam, das Leben verlief im Rhythmusder Jahreszeiten. „Ich schnitzte seit meinem sechsten Lebensjahr.Ein Kind macht das, was ihm Freude bereitet… Zunächst schnitzteich aus Baumrinde Lämmchen, verschiedene Tiere und Vögel. Späterverlegte ich mich auf Holz…“

1938 kam er – dank eines Stipendiums, das ihm sein Lehrer verschafft hatte – auf die Schule für Holzindustrie in Zakopane in die Klasse von Antoni Kenar. Zu dem Zeitpunkt zählte er 19 Jahre – seine Altersgenossen machten gerade den Abschluss. In der Zukunft sollte es sich herausstellen, dass diese Schule und die Begegnung mit Kenar sein ganzes spätere Leben bestimmten; zunächst blieb er hier aber nur ein Jahr lang, dann brach der Krieg aus. Er kehrte nach Futoma zurück, war Meldegänger in einer Partisanenabteilung, betrieb erfolgreich Landwirtschaft („Es zeigte sich, dass ich das im Blut habe, ich konnte säen, pflügen…“). Es schien, als ob sich nichts mehr daran ändern würde, aber das Schicksal wollte es anders: „Mein Bruder machte 1948 sein Abitur und ich wollte aus dem Haus. Ich schrieb und bat um ein Zeugnis. Und der Professor antwortete mir persönlich, dass er eine Schule gründe – dass ichkommen solle und dass er sich an mich erinnern könne. Die Familie zeigte sich damit nicht einverstanden (…); alle in der Familie verabschiedeten mich schweigend“. Und so kehrte Rząsa mit nahezu 30 Jahren zurück auf die Schulbank, in die zweite Klasse der weiterführenden Schule. Er schloss sie 1952 im Alter von 33 Jahren ab und wurde sogleich, auf Wunsch von Kenar, als Lehrer eingestellt.

Die Schule in Zakopane (die im Lauf ihrer Geschichte mehrmals ihren offiziellen Namen änderte) war nicht irgendeine Berufsschule, sondern das bekannteste und interessanteste musische Gymnasium in Polen. Ohne dieses Gymnasium und ohne Antoni Kenar gäbe es den Künstler Rząsa aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. (Ohne den Pädagogen Rząsa gäbe es zwar die Schule, aber um wie viel ärmer wäre sie gewesen!)

Sie entstand 1876 als Handwerksschule und entwickelte sich nach der Reform von 1922 immer mehr zu einer Kunstschule. Zu der Zeit spezialisierte sie sich im Bereich der „angewandten Kunst“ und die Arbeiten ihrer Schüler wurden mit nicht geringem Erfolg auf großen europäischen und amerikanischen Ausstellungen dekorativer Kunst gezeigt. Bereits 1925 errang sie auf der großen Internationalen Ausstellung Dekorativer Kunst in Paris den Grand Prix für Holzschnitt, den Grand Prix für die Lehrmethode und die Goldmedaille für Skulpturen und 1937, ebenfalls in Paris, die Silbermedaille.

In eine solche Schule kam 1938 Antoni Rząsa; zur selben Zeit begann in der Schule sein Namensvetter, Antoni Kenar (1906–1959), im Fach Skulptur zu unterrichten, ein Absolvent der Schule in Zakopane und der Warschauer Kunstakademie, ein hervorragender Bildhauer und geborener Pädagoge. Er war zwölf Jahre älter als Rząsa und stammte ebenfalls aus einem Dorf südlich von Rzeszów. Nach dem Warschauer Aufstand wurde er nach Deutschland in Zwangsarbeitslager in Oberhausen und Essen abtransportiert, und verbrachte anschließend die beiden ersten Nachkriegsjahre in Frankreich, hauptsächlich in Paris, der damals noch unbestrittenen Kunsthauptstadt, wo man sich mit den neuesten Strömungen im Kunstschaffen bekannt machen konnte. Dies war wesentlich, denn gerade im Jahr 1948, als Kenar nach Polen zurückkehrte, ging für mehrere Jahre der “Eiserne Vorhang” nieder und schnitt die heimischen Künstler von allen Informationen ab. Das in der Provinz, in Zakopane versteckte Gymnasium für Techniken der Bildenden Kunst, das Kenar (dessen Namen es heute trägt) auf der Grundlage der ehemaligen Schule für Holzindustrie aufbaute, stellte eine eigentümliche Enklave künstlerischer Freiheit dar, in der er seine sehr gelungenen pädagogischen Experimente durchführen konnte. Dies war eine ganz und gar antiakademische Schule, darauf ausgerichtet, die Empfindsamkeit und Spontanität der Schüler zu wecken – eine Ableugnung der damals gültigen pädagogischen Doktrin. Viele Arbeiten von Schülern aus jener Zeit versetzen in der Tat in Erstaunen: sie stehen der damaligen Avantgarde entschieden näher als dem Sozrealismus.

Ich fuhr voller Hoffnung“ notierte Rząsa „aber auch mit gemischten Gefühlen. Schließlich zählte ich bereits 29 Jahre, für die Schulbank ein bisschen viel, glücklicherweise war ich sehr dünn und keiner ahnte es. In der Schule waren wir in sehr schwierigen Verhältnissen untergebracht. Die Tage vergingen und unsere Situation wurde immer schlimmer: im Zimmer war es wegen des fehlenden Heizmaterials bitter kalt; wir wussten, dass die Lehrer ohne Bezahlung arbeiteten. Immer mehr Jungen waren mittellos. Professor Kenar gewährte ihnen ständig nicht rückzahlbare Darlehen. Einige von uns arbeiteten nachts und fertigten kleine Holzschnitzarbeiten oder Spielsachen, die Professor Kenar für uns in Warschau verkaufte. Wir unterstützten uns gegenseitig und teilten jedes Stück Brot.“

Die ersten Jahre nach dem Schulabschluss waren für Rząsa sehr hart – immerfort quälten ihn Zweifel an seinen bildhauerischen und pädagogischen Fähigkeiten. Da hat ihm Kenar geraten, sich von der Volkskunst zu lösen („Sieh, welch enorme Weisheit in der Verwendung des Materials steckt, welche Einfachheit der Komposition, wie man mit Hilfe schlichter bildhauerischer Mittel einen ungeheuer starken Ausdruck erreichen kann“). Rząsa nahm sich diesen Rat zu Herzen, aber es mussten einige Jahre mehr oder weniger gelungener Versuche vergehen, ehe er wirklich seinen Weg gefunden hat.

Dies fiel in die Zeit von Kenars schwerer, zum Tode führender Krankheit. „Die ersten Kreuze, bei denen ich völlig von jenem katholischen Kanon abweiche, entstanden damals, als der Professor krank war und ich sah, wie er leidet und ich mich damit irgendwie nicht abfinden konnte (…) Ich bediente mich Christi und machte den Menschen und das Leben, das Leiden“. Es entstand ein gutes Dutzend Kreuze, meistens in Birnenholz („Birnenholz ähnelt dem Körper“). Sie waren nicht groß, etwa vierzig Zentimeter, synthetisch in der Form, streng und sehr expressiv. 1959 starb Kenar und Rząsa schuf das Grabkreuz. Für ihn war dies ein Wendepunkt – er war damals schon 40 Jahre alt.

Kenars Grabkreuz – ein dicker, vielleicht drei Meter hoher Stamm mit einem herausgemeißelten Kreuz, an dem (oder vielmehr: in dem) eine Christusfigur mit hoch erhobenen Händen (ein Attribut eher „weltlicher“ Folter) und einem unnatürlich tief auf die Brust gesenkten Kopf hängt – rief in Zakopane große, mehrere Monate andauernde Empörung hervor. Man verdammte Rząsa in Grund und Boden und beschuldigte ihn der Bilderstürmerei und Häresie. Er ließ sich das Rückgrat nicht brechen, hielt durch und erstarkte trotz der Betschwestern, die erfolglos mit Hilfe von Steinen versuchten, die Figur abzuschlagen und trotz der Meinung der Goralen, dass der Christus „einen Kopf, wie ein Huhn mit durchgeschnittener Kehle habe, Hände ohne Finger und ein hässliches Kleid…“

In einem seiner Briefe schrieb Rząsa damals: „Wegen der Niederschläge wollte ich Jesu Arme nicht an den Seiten anbringen, sondern ich streckte sie mit dem Verlauf der Jahresringe übereinstimmend nach oben und verflocht sie über dem Kopf, von den Fingern aber machte ich weniger, damit sie nicht lauter als das Ganze werden. (…) Während des Krieges sah ich viele Tote, so dass ich wusste, wie alles bei einem leblosen Menschen aussieht. Also senkte ich dem Christus den Kopf… (…) Ich nahm diesen Christus und machte aus ihm einen Menschen…“ Mit der Zeit wurde das Grabkreuz an Kenars letzter Ruhestätte als eines seiner hervorragendsten Werke anerkannt.

Rząsa wurde immer sicherer in seiner Arbeit, er lehrte und hatte Ausstellungen in Polen und im Ausland. 1961 hatte er seine erste Einzelausstellung und im selben Jahr erhielt er ein Stipendium für einen Italienaufenthalt; während der dreimonatigen Reise besichtigte er nahezu ganz Italien(abgesehen von einem Schulausflug nach Moskau war dies seine einzige Auslandsreise). Man begann immer stärker auf ihn aufmerksam zu werden, es wurde über ihn geschrieben, man befragte ihn in Interviews und besuchte ihn in seinem Atelier – seine Arbeiten fanden allmählich den ihnen gebührenden Platz in Museen und Kirchen. Mitte der sechziger Jahre heiratete er, dann kam sein Sohn, Marcin (künftig ebenfalls Bildhauer), zur Welt, aber er lebte und arbeitete weiterhin in erbärmlichen Verhältnissen, war krank und litt ständig an Geldmangel (zugegebenermaßen verkaufte er seine Skulpturen äußerst ungern).

1973 – schon von Krankheit gezeichnet – hörte er auf, in der Schule zu arbeiten; er schnitzte nur noch sehr wenig, denn es bereitete ihm Schwierigkeiten, Werkzeuge in der Hand zu halten. 1974 kaufte er – mit Hilfe der Stadtverwaltung, die zu der Zeit den Wunsch verspürte, als Kulturmäzen aufzutreten – ein im Bau befindliches Haus, eigentlich eine Ruine. Zwei Jahre später gelang es darin eine Galerie seiner Werke zu eröffnen, aber der Wohnbereich entstand nur langsam und mit größter Mühe. Wegen fehlender Mittel machte der bereits schwer kranke Rząsa alles, was er noch in der Lage war zu machen, selbst. Schließlich zog er 1978 zusammen mit seiner Familie in das immer noch nicht fertiggestellte Gebäude.

Er starb im Januar 1980; ein knappes Jahr später, nach einer schweren und langwierigen Krankheit, folgte ihm seine Frau, Halina. Beide ruhen ganz nah am Grab von Antoni Kenar mit jenem denkwürdigen gekreuzigten Christus.

Im Laufe der Jahre entstanden diverse Werkzyklen: Die Kreuze, Die Christusse, Das Los des Menschen, Die Pietas… Man begann Rząsa für einen religiösen, katholischen Bildhauer zu halten, was nicht verwunderlich ist. In seinen Skulpturen sah man eine neue, modernisierte Version der Heiligenfiguren aus Andachtshäuschen und kleinen hölzernen Dorfkirchen, die dazu da sind, um verehrt zu werden und die Bitten und das Flehen der Gläubigen anzuhören. Dies war eine ungeheure Vereinfachung, wenn nicht sogar eine Verfälschung.

Rząsa war mit Sicherheit kein Katholik, aber ein tief gläubiger Mensch. Sein Glaube war zweifellos im Christentum verankert; es war dies jedoch ein eigener, privater Glaube. Nach der tragikomischen Affäre mit Antoni Kenars Grabkreuz, als man ihn aller möglichen Gottlosigkeiten bezichtigte, schrieb er in einem Brief an seinen Freund: „Was jene Entweihung anbelangt, so bin ich gläubig, meine Religion entfließt nur meinem geistigen Verlangen. Ich bezeichne mich nicht als Katholik, oh nein. Zur Kirche gehe ich nicht, ich praktiziere nicht, aber ich spüre, dass es eine mächtige Welt des Geistes gibt, die sich ununterbrochen im Konflikt mit der Welt der Materie befindet. Ich fürchte mich nicht vor der Hölle, ich fürchte mich einzig und allein vor dem Gang zur Kirche, damit ich nicht in Hass zu meinem Glauben entbrenne. Was die Beleidigung Gottes betrifft, so habe ich – als meine Mutter plötzlich starb, als mein Bruder starb und zwei kleine Kinder hinterließ und mit ihnen seine unverantwortliche und rücksichtslose Frau – voller Verzweiflung mit meinem Gott gehadert, Ihn einen rücksichtslosen Tyrannen genannt, habe geklagt, geflucht und Ihn verhöhnt. Als Kenar starb, habe ich es ähnlich erlebt, aber ich habe niemals versucht, meinen Gott mit dem Meißel zu beleidigen.“

Es ist dies keine andächtige Kunst ad maiorem Dei gloriam und sicherlich auch keine religiöse Kunst im traditionellen Verständnis. Alle diese scheinbaren „Heiligenfiguren“ stellen in der überwiegenden Mehrzahl gar nicht Christus oder die Mutter Gottes dar – sie entstanden aus ganz anderen als religiösen Gründen. Der frühe Zyklus der hl. Anna Selbdritt begann durch Zufall, durch eine bei Kenar bestellte Skulptur, die dieser vor seinem Tod nicht mehr zu Ende führen konnte: „Ich begann die erste zu schnitzen, die Arbeit ging sehr gut voran, dann die zweite, die dritte, die vierte… Ausgangspunkt jeder weiteren Komposition war nicht die Idee – der Inhalt, sondern die Verschiedenheit der formalen Lösungen. (…) Die Realisierung dieses Zyklus war, trotz aller Fehler, ein sehr wichtiges Ereignis auf meinem künstlerischen Weg. Indem ich in einem Thema möglichst viele kompositorische und formale Lösungen suchte, fand ich den Anfang meines künstlerischen Weges“.

Die Pietas, deren Gestaltung oft äußerst unklassisch ist, tragen folgende Titel: Pietàder Septemberniederlage,Pietà – Mutter der Partisanen,Pietàdem kämpfenden Warschau,Pietàder Vergänglichkeit… In einem der Interviews stellte Rząsa fest: „Keine davon habe ich als Mutter Gottes gemacht. Die polnische Frau wurde zum Modell meiner Pietas“ (Der Genauigkeit halber sei ergänzt, dass es sich bei der Pietà der Schlacht bei Tobrukum die schmerzerfüllte afrikanische Mutter handelt.)

DerAuschwitzer Christusist nicht der Gottessohn in der symbolischen Zebrakleidung, es ist nur ein Mensch, ein im Vernichtungslager gekreuzigter Häftling, in gewisser Weise in einer noch tragischeren Situation als der Erlöser („Ich glaube, dass Christus in der Überzeugung starb, die Welt zu erlösen, dieser aber – der Mensch im Lager – ging zu Grunde, ohne zu wissen, wofür…“).

DieKreuze, die in der Zeitvon Antoni Kenars Krankheit entstanden, zeigen eigentlich auch keinen Christus: sie sind eine Darstellung der Leiden eines sehr nahestehenden Menschen, angesichts derer Rząsa ratlos war – es ist dies eine Aufzeichnung seiner Machtlosigkeit. Die Kreuzigung ist übrigens wohl das dauerhafteste Motiv, das in Rząsas Werk immer wiederkehrt. Die gequälten, verstümmelten, leidenden, manchmal aber auch aufrührerischen und bedrohlichen Gestalten am Kreuz, das sind ganz einfach wir und unsere Nächsten. Ungeachtet dessen, an was wir glauben oder an was wir nicht glauben, verbindet uns jenes Symbol: „Unter den Gläubigen wie auch unter den Ungläubigen ist Christus doch ein Symbol der Güte, der Weisheit und das steckt in den Menschen“. Und weiter: „Dieser Mensch am Kreuz hat schon alles erfahren, das Gute und das Böse, in seinem Gesicht spiegelt sich das ganze Wissen darüber, das er sich angeeignet hat… Ich weiß nicht, ob die Einteilung in Gut und Böse richtig ist. Beides ist untrennbar – in allem befindet sich ein Element des Bösen…“ Der gekreuzigte Christus – ein nichtreligiöses Symbol, sondern ein universelles, existenzielles Symbol des Leidens. In Rząsas ganzem Schaffen erscheint wohl keine einzige Darstellung eines triumphierenden Christus, eines triumphierenden Gottes – und auch nicht eines solchen Menschen…

Rząsa arbeitete in Holz, ausschließlich in Holz. Und Holz ist ein besonderes Material, es ist ein ehemals lebendiger Organismus, der, wie ein Mensch, seine Geschichte, sein Leben gleichsam in sich aufgezeichnet hat: „Wenn du zum Beispiel einen Baum siehst, der unter schlechten Bedingungen emporwächst, gegen den Wind, gegen dies, dann ist er so verdreht wie ein Mensch, der mit dem Leben kämpft, der Baum ist so hart, so aufgebaut. Zum Beispiel eine Linde, sie ist so hart wie eine Birke und so weich, dass ich mit den Fingernägeln kann, wenn sie unter guten Bedingungen emporwuchs. Genauso bei den Menschen – und hier besteht ein gewisser Zusammenhang“.

In Rząsas Arbeiten spürt man eine tiefe Ehrfurcht vor einem Stück Holz und seiner Geschichte, die dazu führte, dass es eben eine solche und nicht andere Form und Eigenschaften hat. „Ich mache das, was mir der Baum diktiert“ sagte er. „Ich habe ein Stück Baum und schaue es solange an, bis ich es sehe. Eine Skulptur ist sehr stark vom Baum abhängig“. Er sagte auch, dass er sich soweit wie möglich bemühe, ein Werk aus einem Klotz zu schnitzen und es nur ungern stückle –als ob er die Ordnung der Existenz möglichst wenig stören und das, was er selbst schaffe, im Rahmen der von Natur bestimmten Form einschließen wollte. Die Skulpturen von Rząsa, das sind einst lebendigen Bäume selbst – nur in einer anderen Gestalt.

In seiner Weltsicht ging Rząsa weiter als der hl. Franziskus. Bei der Betrachtung seiner Skulpturen, beim Lesen seiner Aussagen hat man bisweilen den Eindruck, dass die „kleineren Brüder“ für ihn nicht nur die Tiere waren, sondern auch die Bäume; oder vielleicht auch alles, was überhaupt lebt. Es ist etwas daran von einem archaischen, heidnischen Gefühl der gleichberechtigten

Koexistenz mit der ganzen Natur. Das Gefühl, lediglich ein Teilchen im symbiotischen Organismus der Erde-Gaia zu sein. Und nur das ist sicher.

Koexistenz mit der ganzen Natur. Das Gefühl, lediglich ein Teilchen im symbiotischen Organismus der Erde-Gaia zu sein. Und nur das ist sicher.

In einem der Interviews erzählte er, wie ein polnischer Offizier zu Beginn des Krieges bei ihnen zu Hause in Futoma ein wunderschön herausgegebenes Buch zurückgelassen hatte; es trug den Titel Wer sind wir, woher stammen wir, wohin streben wir?Rząsa sagte, dass ihn diese Frage, auf die er keine Antwort weiß, seit diesem Zeitpunkt begleitet. „Denn keiner hat bislang die Frage beantwortet: Wozu lebt der Mensch…“

In den Skulpturen Rząsas kann man die romanische oder frühgotische, strenge Erhabenheit finden, die Wärme des Holzes volkstümlicher Heiligenfiguren, die schmerzerfüllte, übertriebene Grimasse expressionistischer Kunst und (in seinen frühen Werken) sogar Formen, die an Henry Moore erinnern – aber daraus ergibt sich überhaupt gar nichts. Denn wozu sollte man für Rząsas Schaffen einen Platz auf der verworrenen Landkarte der Kunstgeschichte suchen; wozu sollte man abwägen und messen, wie viel Realismus darin steckt und wie viel Symbolismus, wie viel bewusster Wahl und wie viel Zufall, wie viel Raffinement und wie viel Naivität… Rząsas Kunst ist die Kunst von Rząsa – seine eigene Kunst. Sie unterliegt nicht den Kriterien künstlerischer Moden, sondern existiert gleichsam zeitunabhängig, sie wird, wie ich glaube, lange überdauern, denn sie ist vom Glauben erfüllt. Er sagte, dass er eigentlich für sich selbst meißelte, dass dies sein Tagebuch wäre – aber es war doch auch sein Gebet.

Wawrzyniec Brzozowski

Krakau, Juni 2004

 

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